FORUM
Sonntag, 1. April 2018 | Nr. 13 MV
In Essaouira gaben Jugendorchester und Männertanzgruppe ein gemeinsames Konzert mit marokkanischen Sängern und Tänzern. Fotos (3): Ronja Fichtner
Das Jugendorchester der Evangelischen Musikschule Wismar e.V. war in den Winterferien zwei Wochen in Marokko. Möglich wurde dieses Erlebnis durch die Kooperation mit Brahim Oubaha, Vorsitzender des Deutsch-Marokkanischen Kulturforums Timatarin.
Von Ronja Fichtner
Wismar. Agadir, Taroudant, Ait Baha, Tanalt, Tafraout, Essaouira und andere spannende Orte waren Stationen des Jugendorchesters der Evangelischen Musikschule Wismar in Marokko. Wir, 28 junge Leute aus der Hansestadt und Umgebung, lernten im marokkanischen Süden Künstler, Aktivisten, Kulturschaffende und Menschen kennen, die uns empfingen wie alte Freunde. Wir sangen, musizierten, lauschten, diskutierten und staunten.
Am meisten staunte ich bei der Begegnung mit Menschen in einem Bergdorf bei Tanalt im Anti-Atlas. Zunächst saßen wir einfach wie zufällig in einem Raum, die Stühle nach vorn ausgerichtet. Nach Tee, Keksen und ein paar Reden hieß es: „Und nun könnt ihr euch unterhalten!“ In einem kleinen und sehr kalten Raum, Heizungen sucht man in Marokko vergeblich, wurden wir nun also einander vorgestellt: Wir, die 28 durchgefrorenen Jugendlichen aus Deutschland, und etwa 30 Frauen und Mädchen aus dem Dorf und der näheren Umgebung mit weißen Tüchern vor den Gesichtern.
Wir drehten unsere Stühle um. Zunächst sagte niemand etwas. Nur „wir“ und „die“ tuschelten untereinander. Ein paar junge Frauen trauten sich schließlich, miteinander ins Gespräch zu kommen. Auf Englisch und Französisch kamen laute und fröhliche Unterhaltungen zustande. Allerdings immer nur zu zweit. Es wurde viel hin und her übersetzt und wir trugen unseren „Übersetzern“ auf, bestimmte Fragen zu stellen, und die marokkanischen Frauen nutzten dieselbe Strategie. Wir konnten einige Gemeinsamkeiten feststellen: Die Mädchen mochten Facebook und planten ihre Zukunft – allerdings mit weniger Zuversicht als die Mädchen aus Deutschland.
Uns ging langsam die Möglichkeit aus, miteinander zu kommunizieren. Doch jemand kam auf eine wundervolle Idee: Wir könnten Lieder austauschen. Die deutschen Frauen und Mädchen stimmten „Hejo, Spann den Wagen an“ als Kanon an, und spontan sangen die marokkanischen Frauen auch ein Lied für uns. Das Singen und die Musik haben uns zusammengebracht.
Wir besuchten auch das „Connect Institute“ in Agadir. Dort nahmen uns junge Erwachsene in Empfang, die dieses kostenlose Bildungsangebot regelmäßig nutzen. Sie zeigten uns stolz das moderne, europäisch-amerikanische Institut und den Kalender mit den zahlreichen IT-Projekten, Schulungen, Sprachkursen und kulturellen Veranstaltungen. Bevor wir an diesem besonderen Ort unser Konzert gaben, kam ich mit zwei jungen Frauen ins Gespräch. Sie erzählten, dass sie das Institut sehr schätzen und die Freiheit, die sie in einer Stadt wie Agadir genießen. Damit meinten sie vor allem die Möglichkeit, ihre Individualität über Kleidung und Freizeitgestaltung auszudrücken.
Die Mädchen berichteten von der Diskussion um das Tragen von Kopftüchern in der islamisch geprägten Gesellschaft. Arifa trägt kein Kopftuch. Deshalb hat sie manchmal Streit mit ihren Eltern, die sich wünschen, dass Arifa in der Öffentlichkeit ein Kopftuch trägt. Sie möchte es nicht und setzt sich gegen ihre Eltern durch. Salamah trägt ein Kopftuch. Deshalb hat sie manchmal Streit mit ihren Eltern, die sich wünschen, sie würde kein Kopftuch tragen. Sie fühle sich „more comfortable“ mit ihrem Kopftuch, es gebe ihr Sicherheit.
Die Begegnung mit diesen neugierigen, selbstbewussten Frauen gab mit einen starken Input zur Selbstbestimmung: Jeder sollte frei sein bezüglich der Entscheidungen der eigenen Körpers, Identität und religiösen Praxis. Und Arifa und Salamah haben mir das innerhalb eines kurzen Gesprächs so deutlich vor Augen geführt wie keine Begegnung zuvor. Arifa und Salamah sind meine marokkanischen Heldinnen. Sie erlaubten mir einen echten Blick über den Tellerrand.